Vipassana

Nach dem langen Schweigen …

…nun etwas mehr Text 😉

In den grünen Hügeln der Halbinsel Chiba südöstlich von Tokyo liegt das Vipassana – Zentrum Dhammadicca. Es ist eines von zwei in Japan und eines von 169 weltweit, die sich dieser Form und Schule der Meditation verschrieben haben. Nach dem Gründer dieser Ausrichtung, dem Burmesen Goenka, ist dies die reine Praxis, welche durch Siddhartha Gautama vor 2500 Jahren als Pfad zur Erleuchtung beschrieben wurde. Angeblich war diese Technik für die folgenden 500 Jahre nach Buddhas Tod die populärste Meditationspraxis und wurde in großen Teilen Indiens und den umliegenden Ländern praktiziert, ging dann aber für knapp 2000 Jahre verloren durch das Aufkommen von verschiedenen buddhistischen Ausrichtungen, welche sich, entgegen Buddhas Wunsch und Weisung, zu institutionalisierten Religionsgemeinschaften entwickelten. Nur in Burma sei die reine Form erhalten geblieben, welche explizit eine solche religiöse und institutionelle Bindung ablehnt, sondern nur dem Einzelnen einen Weg zur Erleuchtung aufzeigen will.

Die Vipassana – Welt

Für zwölf Tage treffen sich hier 50-60 Männer und Frauen zwischen 20 und 60 Jahren, um in Kursform diese Technik zu erlernen. Aufgrund langer Wartelisten, muss man sich für diese Kurse Monate im Voraus anmelden und sich freuen, einen Platz zu bekommen. Entsprechend gewillt ist jeder, der kommt, die strengen Regeln anzuerkennen: Schon am Abend der Abreise werden Männlein und Weiblein getrennt und nach einer einführenden Veranstaltung beginnt eine sog. “noble silence”, d.h. für zehn Tage darf nicht gesprochen werden. Weiterhin darf man in dieser Zeit das Gelände nicht verlassen und auch sonst nichts zum Schreiben und Kommunizieren mitnehmen. Man gibt alles, inkl. Ausweis ab und nimmt die Gastfreundschaft durch frühere Schüler an. Unterkunft, Verpflegung und der Kurs sind umsonst und erst nach dem Absolvieren darf man überhaupt spenden – getragen von dem Wunsch, anderen diese Chance zu ermöglichen. Weitere Regeln sind, nicht zu töten und zu lügen, d.h. man darf auch keine Moskitos kaputtmachen …

Um 21:00 geht in den Langhäusern und den Zelten das Licht aus, da schon um 4:00 die Glocken zur Morgenmeditation läuten werden. Die Einführung an diesem Abend und auch den folgenden Tagen findet in der Dhamma Hall statt, dem zentralen Raum, in dem gemeinsam (Männlein und Weiblein sehen sich dort, ignorieren sich aber geflissentlich) meditiert wird und wo auch die Instruktionen gegeben werden. Diese sind Audioaufnahmen von Goenka selbst und angeblich sind diese in allen Zentren weltweit exakt die selben. Ebenso der Tagesablauf:

  • 4:00 Aufstehen
  • 4:30-6:30 Morgenmeditation
  • 6:30 Frühstück
  • 8:00-9:00 Gruppenmeditation
  • 9:00 – 11:00 Meditieren üben
  • 11:00 Mittagessen
  • 13:00-14:30 Meditieren üben
  • 14:30-15:30 Gruppenmeditation
  • 15:30-17:00 Meditieren üben
  • 17:00 Snack (halbe Banane und eine Schale Popkorn)
  • 18:00-19:00 Gruppenmeditation
  • 19:00-20:30 Diskurs, anschließend kurzes gemeinsames Meditieren
  • um 21:30 geht das Licht aus

Diese Audioaufnahme wird durch einen Lehrer gestartet und gestoppt. Viel mehr Interaktion findet mit diesem Lehrer für uns Schüler nicht statt. Wir hatten Glück: Unser Lehrer sah exakt wie ein Buddha aus: ein gemütlicher dicklicher Japaner, welcher vorne auf einem kleinen Podest in Meditationshaltung sass und gütig den Raum ueberblickte und immer ein freundlichen Lächeln auf den Lippen hatte. Die Audioaufnahme ist eine Mischung aus alten Gesängen in Pali, und den Instruktionen in indischem Englisch und klingen ein klein wenig so, als ob eine 400 Jahre alte Schildkröte zu einem spricht. Unterbrochen werden sie von einer weiblichen japanischen Übersetzung, welche völlig nüchtern vorgetragen wird, was leider ein klein wenig den Zauber nimmt.

Die zehn Tage 

Wir haben es wirklich geschafft, zehn Tage keinen Kontakt zu haben, nicht einmal Augenkontakt und das, obwohl wir schon sehr viel Zeit in dem gemeinsamen Raum verbracht haben 😉 Entsprechend können wir jetzt zwei völlig unabhängige Berichte vorlegen:

aus den Frauentrakt

Schon lange spukte die Idee einen Vipassana Meditationskurs zu machen in meinem Kopf herum.
Endlich war es soweit. Ein mulmiges Gefühl überkam mich als wir zu einem Ort names Dhammadicca fuhren und am Eingang auch noch ein Schild mit einem Wagenrad drauf stand.
Zehn Tage meditieren, schweigen, mit sich sein, Geschlechtertrennung, drei Mahlzeiten, enger Zeitplan von 4 Uhr morgens bis 9 Uhr abends – eine interessante Verstellung, ein interessanter Zustand.
Die ersten Tage übe ich das Sitzen und höre meinem Atem zu. Ich bin überall auf der Welt, in der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft. Noch meditiere ich wohl nicht. Die nächsten Tage werde ich ruhiger und konzentrierter. Bin mit zwei Schalen Reis zufrieden. Der Schmerz beim Sitzen vergeht, wird nur wahrgenommen. So der allgemeine Grundgedanke. Alles ist vergänglich und vergeht. Das Wagenrad.
Interkulturelle Eindrücke trotz fehlender verbaler und nonverbaler Kommunikation bleiben nicht aus. Meine japanischen Mitschülerinnen bewegen sich in Zeitlupentempo, essen Popcorn mit dem Löffel, sind stille feenartige Wesen, scheinen nicht zu atmen und waschen sich und ihre Sachen bei jeder Gelegenheit. Trotz der Geschlechtertrennung sind die laut hustenden, schniefenden Männer nicht zu überhören. Keine “noble silence” auf der Männerseite.
Irgendwann fehlt die Realität. Ich kann das Reden und Kommunizieren kaum erwarten. Nach der Euphorie der Entspannung und Entschleunigung kam die kritische Betrachtung. Zu viel religiöse Nähe. Es war anders angepriesen. Plötzlich wurde nun von totaler Erleuchtung und Harmonie gesprochen, nachdem acht Tage Einfachheit gepredigt wurde. Meine rationale Ader zweifelte.
Dennoch war es eine besondere Zeit in Dhammadicca. Eine tolle Gelegenheit das Meditieren zu erlernen. Kein Urlaub mit Vollpension. Der Kopf arbeitete und räumte sich auf, während der Körper regenerieren konnte.

aus den Männertrakt

Frühstück und Mittagessen sind gut und es gibt sogar Kaffee. Damit ist eigentlich die wichtigste Rahmenbedingung erfüllt, so dass der etwas ungewohnte Tagesrhythmus und das fehlende Abendessen erträglich bleiben. Da ich im Zelt schlafe, bleiben mir weitere akustische Einflüsse durch meine Mitschüler erspart, worüber ich sehr sehr dankbar bin, denn schon das gemeinsame Meditieren und Essen stellen für mich eine große Herausforderung, äh Chance dar, an der ich Wachsen kann… Schlürfen und Schmatzen sind ja in Asien nicht geächtet und auch das Hochziehen der Nase ist nichts, wofür man sich schämen müsste. Weiterhin habe ich gelernt, dass ausdauerendes und lautstarkes Gurgeln zum Reinigungprogamm vieler Zeitgenossen in diesem Teil der Welt zu gehören scheinen. Über den Umgang mit Verdauungsbeiprodukten schweige ich an dieser Stelle höflich…

Erster Tag, 4:00 Aufstehen, dann zwei Stunden dem Atem lauschen. So war die Anweisung vom Abend zuvor. Das ist es eigentlich im Wesentlichen, was die nächsten drei Tage an Meditation stattfindet. Dabei soll explizit nur der natürliche Atem beobachtet werden, keine Modulation stattfinden und es sollen auch keine Mantras o.Ä. rezitiert werden. Es geht darum, völlig gelassen und gleichmütig den natürlichen Atem wahrzunehmen. Der Tag folgt streng nach dem Vipassana – Plan, jede Einheit wird durch einen Gong angezeigt. Nach der letzten Gruppenmeditation gibt es um 19:00 einen sog. Discours in Form einer Videoaufnahme von Goenka von 1991. Darin erläutert er Hintergründe, gibt Einführung in die Technik, die Historie und spricht über die Erfahrungen, welche der Einzelne wohl im Laufe des Tages gemacht hat. Besonders Letzteres ist sehr hilfreich, da man auf diese Weise erfährt, dass alle Probleme haben, sich auf den Atem für mehr als ein paar Sekunden zu konzentrieren … Er betont heute am ersten Tag nochmals das Überkonfessionelle, dass es eine reine Technik sei, mit welcher jeder selbst seinen Weg zu Zufriedenheit und später auch Erleuchtung finden kann. Dabei lehnt er, auch in Buddhas Tradition, eine Institutionalisierung und Dogmen ab und ruft immer wieder dazu auf, alles kritisch zu hinterfragen. Die Erklärungen folgen dann jedoch entlang buddhistischer Strukturen, wie dem achtfachen Pfad, welcher aus drei Teilen besteht („Weisheit“ (paññāl), „Sittlichkeit“ (sīla) und „Vertiefung“ (samādhi) – diese Begriffe verfolgen uns in den nächsten Tagen ständig). Aspekte dieses Pfades sind unterschiedliche Medidationstechniken sowie Weisheit und die Umsetzung von sog. universellen Werten (nicht töten, nicht stehlen,…). Er erläutert seine Argumentation immer wieder mit Gleichnissen und Geschichten, u.a. aus der Zeit von Buddha –  eine sehr interessante Einführung in die Ideenwelt und Kultur dieser Zeit und Region. Nebenbei leitet er aus dieser universellen Wahrheit auch so etwas wie die zehn Gebote und den kategorischen Imperativ ab ;). Dies alles erscheint wichtig, um zu verstehen, wie dieser Kurs aufgebaut ist.

Goenka selbst ist eine sehr charismatische, gewinnende und eloquente Persönlichkeit, mit Humor und einer authentisch wirkendenden Begeisterung und Überzeugung für die Vorstellung, dass über diesen Weg tatsächlich mehr Frieden in der Welt möglich waere. Es macht wirklich Spaß, seinen Ausführungen zu lauschen. Die nächsten neun Tage folgen immer dem gleichen Rhythmus und schließen mit diesen Erläuterungen.

Wir Novizen bewegen uns Schritt für Schritt auf dem Pfad… Die ersten zwei bis drei Tage lernen wir, die Aufmerksamkeit zu fokkusieren und den Atem als natürlichen Taktgeber neutral zu beobachten, d.h. nicht zu bewerten und nicht zu modulieren. Dabei schränkt man die Aufmerksamkeit immer weiter ein, bis man wirklich den Luftzug am Naseneingang als kleinen Sturm erlebt.

Als nächste Stufe richtet sich die Aufmerksamkeit auf die schwachen Empfindungen (Kribbeln, Jucken, Windhauch, Temperatur, …) auf der Haut um die Nase. Hier ist es schon deutlich schwieriger, neutral zu bleiben, denn mit einem Mal wächst sich ein leichtes Kribbeln, welches man früher entweder nicht wahrgenommen hat und/oder sich einfach gejuckt hat zu einem terrorisierendem Bohren aus. Im Sinne der neutralen Beobachtung ist jedoch ein Eingreifen verboten. An diesem kleinen Beispiel sollen wir lernen, dass alles im ständigen Wandel ist und es v.a. die eigene Bewertung ist, welche einem Ereignis eine Bedeutung gibt. Jede kleine Ursache zieht also meine Bewertung nach sich und diese dann meine Reaktion. Die oft unbewusste Reaktion wird als Sankara bezeichnet und damit schade ich im Wesentlichen mir selbst. Und da jede Reaktion wieder eine Wirkung nach sich zieht, u.U. etwas Ungünstiges für mich und andere, werden ständig Sankaras produziert. Nehme ich bspw. das Schnupfen meiner Mitstreiter wahr und rege mich darüber auf, schade ich erst einmal nur mir selbst und bin vielleicht unfreundlich zu ihnen (was durch das Schweigen allerdings nicht relevant ist 😉 ). Begegne ich diesem wahrgenommenen Geräusch allerdings mit Gelassenheit und dem Wissen, dass es vorbei geht, entspanne ich mich… Naja, klappt manchmal.

Im Laufe der folgenden Tage wird diese Wahrnehmung auf den gesamten Körper erweitert und man lernt, systematisch den Körper nach diesen Empfindungen zu scannen. Irgendwann entsteht dann so etwas wie ein Flow und man beobachtet achtsam gelassen die Empfindungen auf seinem Körper…

Ziel ist nun, die Sankara-Produktion zu drosseln, um keine weiteren negativen Muster zu erzeugen. Gotamas Beitrag zum Meditationswissen der Menschheit war wohl, dass man die (rationale) Einsicht über die Notwendigkeit von Gelassenheit zur Steigerung des eigenen Wohlbefinden an Atem und Haut koppelt und damit tiefer liegene Muster erreicht. Atem und Haut dienen als Monitor fuer meine Empfindung. Der Atem als Indikator vegetativer Funktion ist jedoch steuerbar. Die Empfindungen auf der Haut Monitor der (vegetativen) Funktionen und der eigenen Befindlichkeit, welcher nicht unmittelbar steuerbar ist. Zugegeben, dass ist jetzt meine etwas rationalisierte Darstellung, bzw das, was ich fuer mich mitgenommen habe.

Goenka schweift in den folgenden Tagen immer mehr über den Buddhismus aus und stellt Regeln für ein gutes Leben, die richtige Meditationspraxis und den edlen Pfad auf. Weiterhin legt er uns doch immer wieder nahe, dass die anschliessende Spende, wiederholende Teilnahmen und Mitgliederwerbung als Indikatoren fuer Fortschritte auf dem Pfad der Erleuchtung sind… Letztendlich eine interessante Erfahrung, zu sehen, wie so eine Religionsgemeinschaft in den Anfaengen funktioniert (auch wenn dies keine ist 😉 ).

Das Meditieren, bzw. Schweigen, der geregelte Tag, das Eingesperrtsein gibt schon viel Raum, um sich selber nochmals von einer neuen Seite kennen zu lernen. Ob das nun wirklich bei Vipassana sein muss, oder ob eine Pilgerreise, eine Kur, Marathonlaufen oder ein Schweigekloster der Benedikter, kann ich jetzt noch nicht sagen…

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